Es gibt keine Zufälle. Wie anders kann man das erklären, dass ich in einer Nacht als ich nicht schlafen konnte, den Entschluss gefasst habe für einigen Tage in einem Kloster zu gehen um meine seelische Frieden zu finden. Ich habe das Kloster bewusst gewählt, da es dort auch die Möglichkeit gab einigen physiotherapeutischen Anwendungen zu bekommen und was sehr wichtig für mich ist, die Möglichkeit zur Gesprächstherapie. Ich war immer noch komplett aus meiner Bahn geworfen nach dem Unfall und abgesehen von meinen körperlichen Schmerzen war meinen Seelenzustand aufgewühlt, voller Ängste und Zweifel. Auch Groll und Verletzt sein lagen sehr nah an der Oberfläche. Ich war sehr emotional geworden und musste immer wieder weinen. Ich war einfach nicht mehr ich.
Mein Entschluss wurde reiflich überlegt. Ich fand das Kloster in Koblenz und reiste dorthin. An dem Tag meiner Ankunft schneite es heftig. So einen Schneefall hatte ich zuletzt vor 40 Jahren erlebt und ich war fasziniert. Der Klostergarten war von hohen Bäumen umgeben. Fichten und Tannen waren jetzt von einer dicken Lage Schnee bedeckt und es sah zauberhaft aus. Ich begegnete die Natur von einer anderen Seite und war begeistert. Sofort viel einer Last von meinen Schultern und mein Herz war erfüllt von Vorfreude und Neugierde. Ich wurde sehr herzlich empfangen und meine Tage der Stille konnten anfangen.
Die Stille war hörbar. Noch nicht mal bei den Malzeiten wurde gesprochen. Noch nicht mal geflüstert. Und es tat so gut. Man war nur mit sich selber beschäftigt und alles Beschwerliche von außen war plötzlich wie weggeblasen. Es gab keine frühere Probleme mehr, nur das hier und jetzt war wichtig. Am ersten Tag schon, bekam ich die Seelsorge die ich so sehr benötigte. Ein Kaplan war mein Gegenüber und nachdem er eine Kerze angezündet hat, befragte er mich nach meinem Kummer und gab mir Rat. Ich lernte, dass ich hören muss auf meinem Körper und meine Seele. Die Antworten liegen dort. Jede Krankheit hat ihre Entsprechung in der Seele. Unser Denken und Glauben beeinflussen direkt die Realität und kann tatsächlich Berge versetzen. Jetzt begriff ich, dass meine Krankheiten alle aus meinem ersten Leben herstammen. Ich habe tatsächlich ein zweites Leben bekommen, als mein Mann gestorben war. Gefüllt mit Liebe und gute Gesundheit. Ich bin sozusagen als Phönix aus seiner Asche auferstanden. Zuerst war ich noch sehr krank, aber mit der Hilfe meines jetzigen Mannes habe ich alles überwunden und wurde wieder ganz gesund. 9 Jahre lang lebte ich als glücklichster Mensch auf dieser Erde und es fehlte mir an nichts. Mein Mann ist mein Felsen in der Brandung. Er begegnet mich mit so viel Liebe und Verständnis und er fängt mich auf. Mein jetziges Leben ist also perfekt.
Nach dem Unfall und die Gespräche mit meinem Bruder, die mich sehr verunsichert haben, bin ich in einem Loch gefallen und meine Identität verloren. Dieses erste Leben, mit all seinen Krankheiten, Unsicherheiten, Entwurzlungen und Existenzproblemen hat sich jetzt wie ein Blatt über mein jetziges Leben gelegt und alles verdeckt. Jetzt zählte plötzlich nur noch die Vergangenheit. Als ich das Begriff konnte ich die Probleme symbolisch in der Hand nehmen, von allen Seiten betrachten und sagen: „ich sehe euch jetzt, ich akzeptiere euch, aber nun vergebe ich allen Menschen die mir weh getan haben und lasse los. Ich lasse alle Krankheiten und Schmerzen los und ich bin wieder frei.“
Ich habe auch begriffen, dass die Wahrheiten wie meinen Bruder es sieht, seine Wahrheiten sind und nicht die meinen. Warum sollte ich gute Gefühle durch schlechte ersetzen? Auch hier konnte ich loslassen.
Auf meine Frage wie man denn meditieren kann erfuhr ich, dass es gar nicht so ist wie ich es zuerst gedacht habe, dass man einen Art Selbstgespräch führt, sondern die absolute Abwesenheit von Gedanken zu erreichen. Das kann man nur wenn man sich komplett auf etwas konzentrieren kann. So hat der Kaplan mir die Körperreise empfohlen. Man fängt mit dem Schädel an und richte bewusst den Gedanken an den Körperteil den man entspannen will. Weil auch das Meditieren ist, die komplette Entspannung zu erreichen. Es nennt sich Körperreise weil man nacheinander alle Gliedmaßen und Organe einzeln anspricht und entspannt. Man soll die Situation annehmen und in sich horchen. Was will mir mein Körper erzählen? Achte auf die Signale des Körpers: „was willst du mir sagen?“ Dabei ist das bewusste Atmen so wichtig. Das langsame einatmen und eher ruckartig ausatmen. Alle positive Erfahrungen haben mit ausatmen zu tun. Das Wörtchen „Ja“ zum Beispiel. „Ja“ sagt man wenn man die Ehegelübde ausspricht, „Aua“, wenn man sich wehtut. „Ja“ bei einem erfüllten sexuellen Erlebnis. „Komm“ wen man jemand herbeiruft. Das sind alles Wörter die beim ausatmen gesprochen werden.
Ich bin einzigartig. Ich bewege, denke, fühle, schmecke und höre. Dadurch bin ich. Hier und jetzt. „Kairos“ – der stillstehende Augenblick und „Chronos“ die ablaufende Zeit. Ich habe begriffen, dass ich nicht mehr die Tochter meiner Eltern, die Schwester meines Bruders, die Ehefrau, Geliebte, Seelsorgerin, Krankenschwester meines Mannes bin, sondern bei der Aussage: „Ich bin ich“ ankomme.
In meinem Fall war mir jetzt auch bewusst wie schädlich die Entwurzlungen meiner Kindheit für mich waren. Als Erwachsene kann man Umzüge und Veränderungen zulassen und an ihnen arbeiten. Als große Wendepunkt des Lebens sehen. Aber als Kind empfindet man nur Unsicherheit, Verlust des Bekannten und eine unglaubliche Traurigkeit. Wenn dann auch noch neue Sprachen und Schulen dazukommen, dann ist die Entwurzlung komplett. Die Wandlung ist gleichzeitig Neubeginn. Es fängt meistens mit der Geburt, Hochzeit, aber auch mit Krankheiten und wie jetzt in meinem Fall der Unfall an. Erstaunlicherweise ist das auch ein Neubeginn und nach meinem Aufenthalt im Kloster für mich absolut wahr.
Die wichtigste Wendung in meinem Leben war der Tod meines Mannes. Der Tod ist sowieso die größte Wendung im Leben. Er ändert alles, und die die zurückbleiben, sie müssen einen anderen Weg weitergehen.
Das Gespräch hat gerade mal anderthalb Stunden gedauert, aber es war genug um mich wieder meinen Seelen Gleichgewicht zu geben. Ich werde meine Kraft, Trost und Hilfe aus der Natur, die Musik und die Stille schöpfen. Vielleicht gelingt mir auch das Meditieren und sogar ein Gebet.
Ein Schlüsselerlebnis für mich war der Eintritt in der Kapelle. An dem Abend wurden gregorianische Gesänge gespielt. Die Kapelle ist eher schlicht gehalten aber wunderschöne Glasmosaiken schmückten die eine Wand. Über den Altar war die Figur der leidende Christi. In einer Ecke stand ein Kerzenhalter wo man Kerzen brennen konnte für Verstorbene. Ich zündete zwei Kerzen an. Für meinen verstorbenen Mann und für meine Eltern. Schon jetzt war ich sehr emotional und die Tränen rollten über meinen Backen. Als ich mich hinsetzte – ich war alleine in der Kapelle – war es mir als beträte ich meine eigene Seele. Ich hatte das Gefühl, das eine ungeheure Ruhe über mich kam. Es war ähnlich wie am Tag der Beerdigung meines Mannes. Ein Sturm mit starkem Wind an einem klaren Sommertag kam auf, nachdem der Pfarrer seinen Segen sprach und „Amen“ sagte. Die Bäume bogen sich und nach einigen Minuten war alles wieder vorbei Da sagte der Pfarrer: „In Hebräisch gibt es nur ein Wort für Wind und Geist“. Da wusste ich, dass die Seele meines Mannes noch da ist und mich beschützt. So war es als ich jetzt in der Kapelle saß. Ich horchte eine Weile nach der Musik und war ruhig. Dann kam eine ältere Nonne in dem Raum und ich bat sie ob sie für mich beten würde. Sie setzte sich zu mir und fasste meine Hände. In ihrem Gebet fragte sie dem Herrn mich zu beschützen, Kraft zu geben und von meinem Zweifel über mich Abstand zu halten. Dann nahm sie mich in den Arm, küsste mich und segnete mich….
Dieses Erlebnis hat tiefe Spuren hinterlassen. Ich wollte an dem nächsten Tag nicht wieder hingehen, denn alles was danach kommen sollte, wäre eine Wiederholung. Das wollte ich nicht. So war es für mich einmalig und tief bewegend. Ich bin mir sicher, dass das zu meiner seelischen Gesundung beigetragen hat.